Mit dem Fantasy-Rollenspiel „Gothic“ veröffentlichte das deutsche Entwicklerstudio Piranha Bytes 2001 sein erstes Spiel und schrieb damit Videospielgeschichte. Die Open-World des Fantasy-Rollenspiels wirkt im Vergleich zu modernen Genre-Vertretern nicht gerade riesig und hat definitiv nicht nur grafisch Ecken und Kanten. Trotzdem ist sie eine der besten Open-Worlds, die jemals gebaut wurden und beweist, dass Größe eben doch nicht alles ist.
Wer Elfen und Ritter in strahlender Rüstung erwartet, die in klassischer High-Fantasy-Manier schallende Reden halten und Heldentaten begehen wie in anderen Genre-Vertretern üblich, ist hier fehl am Platz. In „Gothic“ geht es rau zu, wir bekommen nichts geschenkt und versuchen uns als absoluter Niemand in einer Welt voller Verbrecher und Monster durchzuschlagen. Doch genau mit diesem Setting und einer großen Portion Ruhrpott-Charme konnte das Rollenspiel schon zu seiner Zeit viele Fans für sich begeistern.
Willkommen im Minental
Das Königreich Myrtana befindet sich im Krieg mit den Orks und braucht magisches Erz, um in diesem Krieg bestehen zu können. Auf den Beschluss von König Rhobar II soll im Abbaugebiet eine Strafkolonie errichten werden, die von einer magischen Barriere umschlossen ist und damit das Ausbrechen unmöglich macht. Beim Erzeugen der magischen Barriere unterläuft den Magiern jedoch ein Fehler, wodurch sich die Barriere ausweitet und sie zusammen mit dem gesamten Tal darin einschließt. Die Gefangenen nutzen die Gunst der Stunde und bringen in einer Revolte alle Wachen um, wodurch der König nun gezwungen ist, die Sträflinge im Austausch gegen magisches Erz mit Gütern zu versorgen. So viel zur Hintergrundgeschichte.
Jetzt kommen wir als namenloser Held ins Spiel und stehen vor eben genau dieser Barriere, darauf wartend, dass der Richter endlich sein Urteil verlesen hat. Ein Feuermagier unterbricht und bittet uns, eine Botschaft an die Feuermagier im Inneren der Barriere zu übergeben. Im Gegenzug können wir uns als Belohnung wünschen, was wir wollen. Kurzerhand äußern wir unseren Wunsch, endlich das Geschwafel des Richters zu beenden, werden samt Brief in die Barriere geschmissen, kommen hart auf dem Boden auf und werden, als wir wieder bei Bewusstsein sind, von ansässigen Gardisten mit einem Schlag ins Gesicht begrüßt. Herzlich Willkommen in „Gothic“!
Nicht alle Verbrecher sind schlechte Menschen
Wenige Sekunden später hören wir, wie die Gardisten-Streuner von einer Stimme aus dem Off verscheucht werden und wir werden von Diego begrüßt. Der kümmert sich hier um die Neuen. Er gibt uns das erste Briefing, wie die Dinge hier im Tal laufen und schickt uns los ins alte Lager. Damit schickt er uns zur ersten von den insgesamt drei zur Verfügung stehenden Fraktionen. Angefangen bei den esoterischen und leicht benebelten Gurus und Templern aus dem Sumpfgebiet, den Banditen und Söldnern, die zusammen mit den Wassermagiern den Berg bewohnen, bis hin zum Erzbaron Gomez und seiner Gefolgschaft von Gardisten und Feuermagiern aus dem alten Lager.
Entscheiden können wir uns dabei nur für eine der drei Fraktionen. Jede Fraktion bietet nicht nur eigene Rüstungen, Waffen oder Magie, sondern auch eine eigene Geschichte mit einzigartigen Quests. Wir bestimmen mit dieser Entscheidung ein Stück weit, wie wir das Spiel erleben wollen und wer wir im Minental sein wollen. Auch wenn wir trotz Wahl der Fraktion grob dem gleichen roten Faden folgen, eine durchaus schwierige Entscheidung. Zum Glück werden wir nicht komplett allein gelassen und das Spiel nimmt uns etwas an die Hand – ob durch Diego, der uns zum alten Lager schickt, oder die Banditen am Wegesrand, die uns vom neuen Lager im Berg erzählen. Das Spiel sorgt auf organische Art und Weise dafür, dass wir die unterschiedlichen Lager vor unserer Entscheidung kennenlernen
Eine gefährlich lebendige Spielwelt
Nun ist es also Zeit, unsere ersten Schritte durch das von Monstern, Orks und Verbrechern bewohnte Minental zu wagen. Schon nach unserer ersten Exkursion abseits der Wege zeigt uns das Spiel, dass wir bisher noch ein ganz schönes Würstchen sind und uns selbst die vogelartigen Scavenger innerhalb kürzester Zeit aus den Latschen hauen. Aber es ist eben noch kein Meister vom Himmel gefallen. Also folgen wir erstmal den etwas sichereren Pfaden, auf denen schlicht weniger Monster und Gefahren auf uns lauern und beschließen, uns im alten Lager zunächst etwas Ausrüstung zu besorgen.
Im Lager angekommen, machen wir die erste Bekanntschaft mit den lebendigen Niederlassungen des Spiels. Wir beobachten, wie Buddler aus dem Wasserloch trinken, um ihren Durst zu stillen, wie Gruppen zusammen am Feuerplatz entspannen oder wie NPCs ihrem Tagwerk nachgehen. Die Sprecher der NPCs leisten dabei gute Arbeit, Umgebungssounds wirken natürlich und die Musikuntermalung von Kai Rosenkranz passt zu jeder Zeit, ohne zu nerven. Die Bewohner haben ihren eigenen Tagesablauf und reagieren auf Taten des Spielers. Ziehen wir zum Beispiel unsere Waffe oder bedienen uns am Vorrat der ansässigen Bewohner, weisen uns die Betreffenden zunächst freundlich und dann mit der Holzhammer-Methode darauf hin, dies bitte zu unterlassen.
Da wir jetzt nicht so viel Lust auf Holzhammer haben, entspannen wir lieber erstmal bei einem Wasserpfeifchen und kommen etwas runter. Denn wir können mit diversen Objekten in der Spielwelt interagieren. Ob wir die Schmiede benutzen oder uns Fleisch am Feuer braten, viele Teile der vermeintlichen Deko können wir tatsächlich benutzen. Nachdem wir die ersten Kontakte geknüpft und uns etwas ausgestattet haben, machen wir uns mit einer Wegbeschreibung im Gepäck dazu auf, uns langsam die wunderbar organische Welt von „Gothic“ zu erschließen.
Warum uns manch modernes Komfort-Feature überhaupt nicht fehlt
Das bringt uns auch zur größten Stärke von „Gothic“ – der großartig designten Open-World! Ich könnte mich jetzt darüber beschweren, dass mich das Spiel ganz frech ohne Minimap, Questmarker oder andere, nach heutigem Standard selbstverständlichen Komfort-Features in seine Welt wirft. Das will ich aber überhaupt nicht, denn „Gothic“ bringt mir bei, dass ich diesen ganzen neumodischen Schnick-Schnack gar nicht brauche. Wenn ihr euch gefragt habt: „Woher zum Geier weiß ich ohne das ganze Zeug denn dann überhaupt, wie ich ins alte Lager kommen?“, lautet die simple Antwort: Indem wir uns die Umgebung ansehen und mit ihr interagieren. Nach wenigen Metern Weg vom Startpunkt aus sehen wir ein großes Fort in der Ferne und können schnell eins und eins zusammenzählen. Der unweigerliche Verzicht auf omnipräsente Spielhilfen und Icons führt schlicht dazu, dass wir die Welt aufmerksamer durchstreifen. Die Spielwelt bietet zwar nicht so viele Quadratkilometer Fläche wie die riesigen Welten von „Skyrim“ oder „Assassin’s Creed Odyssey“, aber dafür verzichtet sie auch auf kilometerlange Langeweile.
Wir haben Lust, die NPC-Figuren kennenzulernen und diesen auch tatsächlich mal zuzuhören, weil die Informationen für uns wirklich wichtig sein könnten. Figuren wie Diego oder Gorn haben Charakter, passen in die Welt und wachsen uns schnell ans Herz. Also abgesehen von Mud, diesem unfassbar nervigen Typ, denn der hat sich sein volles Pfund aufs Maul im Laufe der Zeit wirklich verdient. Naja, Mud ist eben Schmutz. Aber auch Schmutz hat hier seinen Platz. Irgendwann kennen wir die Welt von „Gothic“ und all ihre Charaktere einfach so gut, dass sie uns im Gedächtnis bleiben. Und genau das ist auch der Grund, weshalb ich mich nach knapp 20 Jahren im Minental immer noch wie Zuhause fühle. Außerdem wird mir wieder bewusst, was ich in modernen Open-World-Titeln oft vermisse und ich verstehe, warum größer nicht immer besser bedeutet.
Ecken und Kanten
Allerdings wird mir ebenfalls bewusst, dass früher eben doch nicht alles besser war. Die schon beim Release leicht angestaubte 3D-Grafik ist leider nicht wirklich als zeitlos zu bezeichnen. Ins Auge stechen dabei besonders die hölzernen Animationen, matschigen Texturen und teilweise trist wirkenden Schauplätze in der Spielwelt, sodass wir selbst mit Retro-Brille ein Auge zudrücken müssen. Als weiteres Haar in der Suppe präsentiert uns das Spiel ein fummeliges Kampfsystem und eine von Satan persönlich entworfene Steuerung. Nicht nur, dass die Mausunterstützung des Spiels bestenfalls als Legende zu bezeichnen ist, sind die Tastaturkommandos als primäre Eingabemethode unnötig kompliziert.
Dass sich zu Release mehr Bugs im Spiel befanden als auf Klendathu, kann ich an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, denn gerade bei meinem ersten Spieldurchlauf hat mich der Zustand des Spiels einige Nerven gekostet. Glücklicherweise ist der technische Zustand des Spiels heute, vor allem durch die Arbeit der Community, besser denn je und läuft dank dem 2021 offiziell erschienenen Patch auch ohne Mods auf modernen Systemen. Auch wenn diese nicht zwingend notwendig sind, ist die Installation von Mods dadurch denkbar einfach und es gibt wirklich eine Menge davon. Vom Grafikmod mit besserer Beleuchtung und besseren Texturen bis hin zu Inhaltserweiterungen ist alles dabei. Die Community von „Gothic“ ist auch 2021 aktiv und mit Leidenschaft dabei.
Ob mit oder ohne Mods kann ich „Gothic“ trotz seiner Ecken und Kanten jedem Rollenspielfan mit etwas Frustresistenz ans Herz legen, denn wer sich darauf einlässt, bekommt hier ein etwas anderes, aber dennoch fantastisches Fantasy-Rollenspiel geboten.
The good
- Fantastische und lebendige Open-World, die den Forscherdrang in euch weckt und auf neumodische Spielhilfen verzichtet
- Hoher Wiederspielwert durch die unterschiedlichen Fraktionen
- Erinnerungswürdige Figuren mit einzigartigem Ruhrpott-Charme
The bad
- Veraltete Grafik mit matschigen Texturen und hölzernen Animationen
- Die Tastatursteuerung ist absolut kontraintuitiv und wird für den ein oder anderen Aufreger sorgen
Bild: Piranha Bytes
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