Gerade hat „Gothic“ uns noch beigebracht, dass Größe nicht alles ist und hat damit auch Recht. Da bittet uns „Gothic 2“ zur Lektion und erklärt, warum größer im Umkehrschluss trotzdem nicht gleich schlechter bedeutet. Leider schafft es die Fortsetzung nicht, sich von allen Kinderkrankheiten zu befreien. Dafür bietet sie eine deutlich größere Spielwelt, bleibt dabei alten Stärken treu und schafft es, diese an manchen Stellen sogar auszubauen.
Auch im zweiten Machwerk des Entwicklerstudios Piranha Bytes geht es gewohnt rau zur Sache. Nachdem wir uns im ersten Teil mit ehrlicher Arbeit hochgearbeitet hatten, ließen wir uns gegen Ende doch zu Heldentaten hinreißen und das ging — wer konnte das schon ahnen — nicht besonders gut für uns aus. Gerade so mit dem Leben davongekommen, starten wir in der Welt von „Gothic 2“ wieder mal als absoluter Niemand. Jetzt heißt es also: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!“
Willkommen in Khorinis
Der zweite Teil der Fantasy-Saga spielt erneut in Myrtana und schließt an das Ende des Vorgängers an. Doch die Ausgangslage hat sich auf dem Papier nicht besonders verändert. Noch immer befindet sich das Königreich im Krieg mit den Orks und König Rhobar II braucht magisches Erz, um Waffen zu schmieden. Nachdem allerdings irgendein Taugenichts die Barriere zu Fall gebracht hat, bricht der Kontakt zum Minental ab und die Erzförderung kommt zum Erliegen. Daraufhin befiehlt der König seinen Paladinen, in die nahe dem Minental gelegene Hafenstadt Khorinis zu segeln, um dort die Erzförderung wieder aufzunehmen.
Als namenloser Held bekommen wir davon nicht viel mit, denn wir liegen noch unter den Trümmern des eingestürzten Schläfer-Tempels und träumen davon, Mud zu verprügeln. Glücklicherweise hat uns die Erz-Rüstung am Leben erhalten, sodass der Magier Xardas uns mit seinen Zauberkräften aus den Trümmern retten kann. Wir wachen in Xardas Turm auf und haben wieder mal nicht mehr als ein paar Fusseln in den Taschen. Als wäre das nicht schon genug Stress gewesen, erzählt uns Xardas zum Einstand, dass der Schläfer die Armee der Orks mobilisiert hat und die auch noch von Drachen angeführt wird. Drei Mal dürft ihr raten, wer das jetzt wieder richten soll.
Eine neue Spielwelt, in der wir uns sofort heimisch fühlen
Weil wir das Add-on „Die Nacht des Raben“ spielen, erzählt uns Xardas, dass Raven unterdessen versucht, die Klaue Beliars an sich zu reißen. Die Erweiterung bietet mit Jharkendar nicht nur ein komplett eigenes Areal im Tempel-Setting. Sie verbessert auch die Erfahrung des Hauptspiels, denn die Storyline und alle Neuerungen werden nahtlos in die Spielwelt integriert. Aber nun erstmal wieder zurück zum Spiel selbst.
Schon nach den ersten Schritten fühlen sich „Gothic“-Veteranen wie zu Hause. Der Grafikstil von „Gothic 2“ erinnert klar an den kantigen Look des Vorgängers und lässt diesen dank neuer Engine in neuem Glanz erstrahlen. Insgesamt ist die Spielwelt detailreicher, die Animationen deutlich flüssiger und das grafische Gesamtbild einfach stimmiger. Außerdem sind viele der Originalsprecher mit an Bord und durch die erneut großartige Musikuntermalung von Kai Rosenkranz entstehen auf der Stelle Nostalgiegefühle. Steuerung und Kampfsystem sind gerade für Anfänger noch etwas eigen. Verglichen mit dem Vorgänger fühlt sich alles trotzdem deutlich fluffiger und intuitiver an. Wer allerdings eine komplette Kehrtwende erwartet, wird enttäuscht werden. „Gothic 2“ setzt hauptsächlich auf alte Stärken und versucht, diese auszubauen.
Viele Wege führen nach Khorinis
Wer die Stärken von „Gothic“ kennt, der weiß, dass uns hier eine wunderbar organische Spielwelt mit passenden und durchdachten Quests erwartet. Der zweite Teil macht das in meinen Augen sogar nochmal eine ganze Ecke besser und hat regelmäßig dafür gesorgt, dass ich mich in der Spielwelt regelrecht verloren habe. Springen wir wieder zum Anfang in Xardas Turm. Finden wir uns in der gewohnten Situation wieder, dass uns selbst ein schäbiger Goblin potenziell aus den Latschen hauen kann. Das bedeutet, wir sacken in Xardas Turm zunächst alles, was nicht niet- und nagelfest ist, ein und machen uns voller Ehrfurcht auf, die Spielwelt zu erkunden. Damit wir nicht von allem und jedem verprügelt werden, sollte schnellstens bessere Ausrüstung her.
Weil wir sowieso mit einem Paladin in der Stadt sprechen wollen, haben wir gleich zwei Gründe, Khorinis einen Besuch abzustatten. Und das bringt uns zu unserem ersten Problem, denn um in die Stadt reinzukommen, brauchen wir einen Passierschein oder eine wirklich gute Ausrede. Gleichzeitig ist das unsere erste Quest und bereits diese steht stellvertretend dafür, warum „Gothic 2“ so ein fantastisches Spiel ist. Die einfachste Lösung wäre vermutlich, unser hart erbeutetes Gold zu opfern und uns damit den Weg in die Stadt zu bahnen. Es gibt aber auch diverse andere Möglichkeiten mit eigenen Voraussetzungen und Belohnungen.
Haben wir zum Beispiel für den Bauer Lothar Rüben gepflückt, kommen wir dadurch an Arbeitskleidung und kommen damit an den Wachen vorbei. Vielleicht waren wir sogar vorher im Tal bei Xardas Turm und haben dort unseren alten Freund Lester getroffen, der uns rät, als Eintrittskarte Kräuter zu sammeln, damit wir dann sagen können, dass wir als Lehrling für den Alchemisten Constantin Kräuter sammeln. Oder wir schaffen es irgendwie bis zum Meer und verschaffen uns an den Wachen vorbei per Wasserweg Zugang zum Hafen. Bei Ankunft werden wir da dann sogar von unserem alten Kumpel Lares mit einem coolen Dialog und 500 Erfahrungspunkten entlohnt. Wir könnten das jetzt noch weiter fortsetzen, aber ich denke es ist klar, was ich damit sagen will.
Behandle mich nicht, als wäre ich ein NPC
Die verschiedenen Lösungsmöglichkeiten fühlen sich dabei nachvollziehbar und organisch an. Außerdem ist es einfach klasse, wenn man das Gefühl hat, einen besonders ausgefallen Lösungsweg gefunden zu haben. Insgesamt wirkt in der Spielwelt einfach alles stimmig. Wie schon im Vorgänger, reagieren die NPCs auf bestimmte Aktionen unserer Spielfigur, wie zum Beispiel das Ziehen unseres Schwertes oder Langfinger des namenlosen Helden. Darüber hinaus hat Piranha Bytes handgebaute Reaktionen für einzelne NPCs eingebaut. Haben wir zum Beispiel noch nicht einmal die Rüben gepflückt und lassen uns dann auch noch mit der geklauten Bauernrüstung bei Lothar blicken, wird dieser uns nicht sonderlich begeistert mitteilen, dass er nun wirklich gar nichts mehr auf den Helden hält und dass es Zeit wird, das Weite zu suchen.
Ich kann wirklich behaupten, dass ich mir gut überlegt habe, was ich rund um Khorinis so angestellt habe – und das finde ich absolut grandios! Ebenso können wir wieder mit verschiedensten Objekten interagieren und dieses Mal sogar noch mehr handfeste Vorteile dabei rausholen. In Sachen Umfang dürfen wir ein weiteres Mal zwischen drei Fraktionen wählen. Der Miliz in der Stadt, den Banditen auf Onars Hof und den Feuermagiern aus dem Kloster. Die bringen dabei eigene Quests, einzigartige Ausrüstung und Fähigkeiten mit sich. Außerdem dürfen wir nun auch einen Beruf erlernen und uns noch Zusatzfraktionen wie den Wassermagiern oder den Piraten anschließen. Dadurch schafft es „Gothic 2“, auch für mehrere Spieldurchläufe zu motivieren. Wir können uns selbst nach Jahren noch wie ein Pionier fühlen und freuen uns irgendwann über jeden noch so kleinen Querverweis.
Guter Wein muss reifen – „Gothic“ muss das auch
Tja und dann war da ja noch die Sache mit den Bugs. Davon gab es 2002, als das Hauptspiel sein Debüt feierte, eine ganze Menge. Besonders die Programmstabilität war vor der Veröffentlichung von „Die Nacht des Raben“ in einem mehr als fragilen Zustand und mit regelmäßigen Abstürzen musste gerechnet werden. Nicht ohne Grund war fast schon neurotisches Schnellspeichern elementarer Bestandteil der Spielerfahrung. Bevor ihr jetzt die „Mobile Infanterie“ ruft, lasst mich euch beruhigen. 2021 ist „Gothic 2“, dank etlicher Patches und einer extra fleißigen Community, in vollkommen spielbarem Zustand. Genau wie beim Vorgänger steht uns wieder ein breites Spektrum an Mods zur Verfügung. Von der Grafik-Mod bis hin zu massiven Inhaltserweiterungen – wer hier sucht, der wird auch finden. Die Qualität und auch der Umfang der Mods ist dabei teilweise mit der von üblichen Inhaltserweiterungen zu vergleichen.
Falls ihr „Gothic 2“ bis heute noch nicht gespielt habt, dann solltet ihr das schleunigst tun. Und wenn ihr es doch schon kennt – dann spielt es einfach nochmal oder probiert euch an einer der unzähligen Mods.
The good
- Eine lebendige und interessante Open-World, in der sich Erkunden wirklich lohnt
- Sehr hoher Wiederspielwert durch die Fraktionen und die vielfältigen Quests
- Wieder vollgepackt mit Ruhrpott-Charme und einem grandiosen Soundtrack
The bad
- Etwas angestaubte Grafik mit matschigen Texturen und leicht hakeligen Animationen
- Gewöhnungsbedürftige Steuerung
Bild: Piranha Bytes
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