Alien-Shooter, Open-World-Pionier, GTA-Vorgänger und Adventure mit jeder Menge Rätsel und Bonus-Missionen: Der N64-Geheimtipp Body Harvest ist all das und vieles mehr. Einer auch für damalige Verhältnisse veralteten Grafik steht eine riesige Portion Spielspaß gegenüber.
1998 erschienen, surft der wilde Genre-Mix Body Harvest voll auf der Aggressive-Alien-Welle, die den seligen 90ern angesichts von Kino-Blockbustern wie Independence Day (1996) oder kultigen Streifen wie Starship Troopers (1997) klar zu bescheinigen ist. Wie in den beiden genannten Filmen wird die Menschheit auch im Nintendo 64-Actionhit von einer grotesken insektoiden Alien-Spezies an den Rand der Vernichtung gebracht.
Düstere Zukunftsvision: 2016 ist die Welt am Abgrund
Gegen die Angriffswellen der fremden Wesen braucht es einen Mann, der alles kann. Adam Drake, der Protagonist des Spiels, reist vom Jahr 2016 aus in der Zeit zurück, um dem Getier zu verschiedenen Zeitpunkten in verschiedenen Ländern den Garaus zu machen. Die gute Nachricht: Wir haben die damalige dystopische Zukunftsaussicht also heute schon überlebt. Da kommen doch Gedanken an den zweiten Teil aus „Zurück in die Zukunft“ auf.
Bei seiner Zeitreise muss Drake alle 25 Jahre Station machen, denn in diesem Intervall senden die Aliens ihre Angriffswellen. Die einzelnen Levels sind:
- Griechenland, 1916
- Java, 1941
- USA, 1966
- Sibirien, 1991
- Der Alien-Komet, 2016
Drake schlägt in erster Linie die Invasionswellen zurück und rettet Zivilisten vor den Monsterinsekten. Er erschließt sich die recht weitläufigen Maps sukzessive und kann dabei auf diverse Vehikel zurückgreifen, die er auf dem Weg findet. In 3D ermöglichte Body Harvest dies noch vor GTA. Daher sehen viele das Spiel als Wegbereiter für das beliebte Gangster-Franchise, das ebenfalls von DMA entwickelt wurde.
Die Ästhetik des Spiels jagt uns wohlige Nostalgie-Schauer über den Rücken und atmet bestes 80er und 90er-Flair. Das beginnt schon bei dem Astro-Soldaten Drake, der aussieht, wie eine Mischung aus Robocop und Judge Dredd. Handlungsanweisungen bekommen wir von einem Helferlein, das den ferngesteuerten Robotern ähnelt, die damals in den Kinderzimmern der betuchteren Haushalte vorzufinden waren. Die Bosskämpfe bestreiten wir in Adams Gefährt „Alpha 1“, einer Art schwer bewaffnetem Hovercraft.
Alien-Invasionen sind gut funktionierende Menschenfress-Kommandos
Das Salz in der Suppe sind die Aliens. Jede ihrer Angriffswellen bildet eine tatsächlich gut organisierte Einheit, in der verschiedene Spezies jeweils eigene Aufgaben übernehmen. Gigantische Heuschrecken sind vor allem zum Kampf mit dem von uns gesteuerten Adam Drake da. Ein großes Maikäferartiges Wesen versucht, als Rammbock Gebäude zu zerstören. Fliegende Aliens, die wie überdimensionierte Wespen aussehen, können Projektile abfeuern – wahlweise auf uns oder auf den ersten Stock derselben Gebäude. Und schließlich hat jeder Alien-Trupp eine Art „Mutter“. Diese sondert Schleimklumpen ab, welche Zivilisten einsammeln und sie dem Anführertier zum Fraß servieren.
Mit diesem Vorgehen versuchen die Insektoiden, einen gewissen Bodycount zu erreichen. Können wir sie daran nicht hindern, dann können sie mit der gesammelten Bioenergie einen „Mutanten“ produzieren. Wenn das geschieht, dann heißt es: „rennen“! Den ungleichen Kampf gegen die gewaltige, stampfende und ballernde Kreatur kann man, wenn überhaupt, nur in einem gepanzerten und bewaffneten Fahrzeug überleben. Neben den genannten stellen sich uns mit zunehmender Spieldauer noch viele weitere Wesen in den Weg.
Anleihen unter anderem aus Zelda oder Tomb Raider
Generell bewegt man sich an der freien Luft am liebsten in Fahrzeugen, denn die Distanzen sind oftmals recht hoch. Das bringt uns zum eigentlichen Gameplay: Body Harvest ist nämlich kein Alien-Shooter, sondern ein vielseitiges Action Adventure mit Anleihen aus diversen Genres. Außer ballern und fahren müssen wir das ein oder andere Rätsel lösen, was gelegentlich an frühe Tomb-Raider-Ableger erinnert.
So müssen wir Gegenstände finden, um eine Windmühle zu reparieren oder Statuen umstellen, um geheime Gänge nutzen zu können. Wenn wir uns hingegen innerhalb von Gebäuden bewegen und starr anwesende Charaktere ansprechen, kommen hin und wieder Assoziationen zu Zelda auf. Es gibt aber auch Action-Minimissionen. Wenn wir etwa eine Horde Kinder mit einem Eiswagen in eine andere Straße locken, liegt der Vergleich mit GTA auf der Hand.
Pionier der Open World Games
Body Harvest war einer der ersten Versuche, in denen sich Entwickler von vorgegebenen Korridoren lösten und den Spieler in eine Art „Open World“ entließen. Wer keine Lust auf die Storyline hat, kann auch stundenlang herumfahren und Zivilisten lynchen. Nur kommt man damit nicht weiter und verdirbt sich seinen Score. Im Gespräch mit dem Youtuber Game Brain berichten die Entwickler, wie schwierig der Spagat damals war: Einerseits dem Spieler das Gefühl von Handlungsfreiheit zu geben und ihn andererseits doch zu gängeln, damit er die Missionspfade einschlägt.
Herausgekommen ist ein einzigartiges Abenteuer. Als leidenschaftlicher Retro-Gamer sehe ich heute in der Rückschau viel Licht und wenig Schatten an Body Harvest. Die größte Stärke ist die Kreativität, welche die Entwickler in das Spiel gelegt haben. Unzählige Fahrzeuge, Einzelmissionen, jede Menge Humor, diverse Film- und Game-Zitate bis hin zu mythologischen Anspielungen machen einfach tierisch Spaß. Man will das Spiel allein deshalb durchzocken, weil man nie weiß, was als Nächstes passiert.
Die Schwächen des Spiels sind vor allem technischer Natur. Wegen organisatorischer Schwierigkeiten wurde das Spiel ein wenig am grafischen State-of-the-Art vorbei entwickelt und hat gegenüber anderen Spielen aus dieser Ära doch eine deutlich rückständige Optik. Teilweise kann das noch mit Phantasie und liebe zum Detail ausgeglichen werden. Doch so cool manche Aliens oder etwa die weiß-blauen Häuser Griechenlands aussehen, so strichmännchenhaft sind die zu rettenden Zivilisten. Und für eine akzeptable KI war bei letzteren offenbar auch kein Budget mehr vorhanden, rennen sie doch gerne mal wie Lemminge in den sicheren Tod. Und ja, der Nebel ist in diesem Spiel extrem. Man kann grade mal 20 Meter weit schauen.
Am Ende ist für mich als Retro-Gamer jedoch Gameplay immer wichtiger als Grafik. Und hier gewinnt Body Harvest. Wäre Adam Drake zu Fuß oder schwimmend ein wenig komfortabler zu bewegen, so würde ich von einem N64-Klassiker sprechen. So bleibt für mich immer noch ein echter Geheimtipp und ein Game, dass nicht nur Beliebtes zitiert, sondern auch in vielen Bereichen Vorreiter war.
The good
- Man riecht förmlich die Pionier-Luft! Die Open-World-Idee war damals vollkommen neu und die Vielfalt an Fahr- und Flugzeugen ist klasse
- Die Aliens sind die heimlichen Stars des Spiels
- Ideenfeuerwerk: Immer wieder neue Missionen
The bad
- Die Landschaften sind leider recht langweilig gehalten und die lemminghaften NPCs rennen herum wie Falschgeld
- Die Steuerung des Protagonisten zu Fuß ist teilweise extrem schwerfällig
- Der Soundtrack besteht aus einem zwar passenden weil düsteren aber irgendwann ein wenig monotonen Hintergrund-Gedudel